Mittwoch

Die internationale Finanzkrise verstehen und handeln

Rezension von: 

Wolfgang Münchau "Makro-Strategien"





Der Untertitel des Buches zeigt, dass man dieses Buch unter zwei Blickwinkeln lesen kann. Man kann sich sachkundig machen, wie und warum Staaten pleitegehen, und man kann sich informieren, was man als Anleger beachten sollte, wenn man sicher investieren will. Keine schlechte "Lesebrille" sozusagen, wo man mehr oder weniger gleichzeitig mit verschiedenen Gläsern lesen kann. 





Münchaus Hauptargument ist (der Titel: nomen est omen): Die globale Schuldenkrise hat sich dermaßen ausgeweitet hat, dass die volkswirtschaftlichen Faktoren alle Geschehnisse im Wirtschafts- und Finanzsektor überschatten. 

Wer dies beachtet wird sich weniger um konjunkturelle ad hoc Veränderungen kümmern, sondern auf die strukturellen Aspekte des internationalen Wirtschaftssystem achten. Und dort ist der alles überragende Aspekt die strukturelle Systemschwäche die Instabilität der Finanzmärkte. 





Im ersten Teil erklärt Münchau die Gründe dieser Instabilität, und warum sie von Dauer sein wird. Der zweite und dritte Teil ist dann der Frage nach individuellen Anlagestrategien gewidmet; da zieht Münchau konkrete Konsequenzen aus Teil Eins. Beides verknüpft Münchau mit dem tiefsinnigen Bonmot von Keynes: Die Märkte können länger irrational sein als dass man selber liquide ist...





Das Buch ist ausgesprochen lesefreundlich und gibt auch während der inhaltlichen Entfaltung des Themas fortlaufend Tips, wie mit der Publikation verfahren kann. So kann man z.B. problemlos nur Teil I lesen, wenn man sich nur für das Problem der Finanzinstabilität und ihre volkswirtschaftlichen Konsequenzen interessiert (und keine Anlagentips benötigt - z.B. weil man nicht über das notwendige Kapital verfügt). Ausserdem präsentiert Münchau einen Zwei-Prioritäten Lektürevorschlag: Es gibt Buchteile, die man lesen "muss" und andere die man auch problemlos überspringen kann.





Warum waren die 50er und 60er Jahre so stabil? Damals gab es feste Wechselkurse, die Finanzregulierung war restriktiv und die 

EDV hatte noch keinen Einzug in die internationale Finanzwelt gefunden. Diese Schönwetterperiode endete in den 70er Jahren: die festen Wechselkurse wurden durchs free floating ersetzt und die Goldbindung aufgehoben. 





Die Ursache für die jüngste Krise 2007 bis 2009 sieht Münchau in einer Problemkombination von massiv grösser gewordenen globalen Finanzströme und der Deregulierung der Finanzmärkte. Dass der Umfang der Finanzströme dermaßen zugenommen hat, liegt an den erheblichen 

Leistungsbilanzdefiziten (USA) und -überschüssen (China, Deutschland). Mit diesen Defiziten und Überschüssen flossen massive Geldströme in die internationalen Finanzmärkte, die nach einigen Transformationen schließlich schwerpunktmässig zur Finanzierung amerikanischer Hypotheken und Konsumausgaben benutzt wurden. 





Die explodierenden Kapitalströme waren aber nur ein Auslöser für die Krise. Hinzu kamen einschneidende "Innovationen" im Bankengeschäft: Die Banken konnten erstmals ihre drei klassischen Risiken (Kredit-, Zins- und Liquiditätsrisiko) durch das neue Finanzinstrument der sog. "Verbriefung" abwälzen, d.h. eine Bank konnte z.B. ihre Kredite auslagern. 





Fatal war dabei, dass die Banken infolge der fehlenden Transparenz des Finanzsystems die Gefahr ihrer Verbriefungsaktionen total unterschätzt hatten. Denn die klassischen Bankrisiken kann man zwar auslagern aber nicht einfach auflösen. Statt wie früher bei den Banken zu bleiben, verlagerten sich die Bankrisiken nun auf Institutionen wie Lehman Brothers u.a., die die Risiken nicht tragen konnten sondern darüber kollabierten. 





Das erklärt nun zwar die jüngsten internationalen Finanzkrisen, aber nicht die Krisen der 70er Jahre. Dafür muss man zu einer umfassenderen Theorie der wirtschaftlichen Instabilität greifen, für die Münchau Hyman Minsky präsentiert. 




Hyman Minsky




Minskys Theorie steht im Gegensatz klassischer wirtschaftstheoretischer Erklärungsmuster, die Krisen aus externen Faktoren heraus erklären. Für Minsky ist wirtschaftliches Gleichgewicht nicht der Normal- sondern der Ausnahmezustand. Der Kapitalismus hat die natürliche Tendenz, sich immer wieder von der Stabilität wegzubewegen. Denn Stabilität ist die Motivation für die spekulativen Finanzmärkte, immer risikoreichere Investionen zu tätigen, so dass der Stabilzustand fortlaufend latent unterminiert wird. 





Ohne die amerikanische Subprime-Krise zu kennen, (Minsky verstarb 1996) entwickelte sich diese Krise exakt entsprechend der Krisen-Entwicklungsstruktur, wie Minsky sie für Kreditspekulationen entwickelt hat:





Stufe I = Konservative Strategie (die Investoren sind in der Lage, sowohl Zinsen für ihre Kredite zu bezahlen als auch ihre Kredite zu tilgen)





Stufe II = Gefahrenstufe (die Investoren können zwar noch die Zinsen bezahlen, aber nicht mehr ihre Schulden tilgen)





Stufe III: Die Blase platzt (die Investoren können jetzt sogar nicht mehr aus eigener Kraft die Zinsen bezahlen, sondern können nur noch auf die Erhöhung ihrer Anlagewerte wetten). 





Minsky hat aber nicht nur eine schlüssige Theorie der Finanzinstabilität entworfen, sondern auch auf die großen Risiken des neuen Finanzinstruments "Verbriefung" hingewiesen, mit der die Banken ihre drei klassischen o.a. Risiken durch Erzeugung von Wertpapieren auslagern. Da Verbriefungen so attraktiv für die Banken sind, gab es im Laufe der aktuellen Finanzkrise geradezu ein Run auf dieses Instrument. 





Das Fatale daran war, dass sich damit die Rolle der Banken massiv änderte. Waren 





Banken in früheren Zeiten in erster Linie für Kredite zuständig, übernahmen sie jetzt die Rolle von Verkäufern und Händlern. Sie geben zwar auch weiterhin Kredite aus, verkaufen sie aber sofort wieder. Der Markt, auf dem die Banken diese neuen Rollen, speziell ihre Kreditverkäufe, ausüben, ist aber nicht mehr das lokale Bankumfeld, sondern der internationale globale Finanzmarkt mit all seinen Instabilitätsrisiken, weil dieser nicht durch die klassischen Bank-Auflagen für Mindestreserve und Eigenkapitalvorschriften reguliert wird.





Warum hat das ökonomische Establishment (Stichwort: Harvard, MIT, Princeton) dieses Problem nicht erkannt? Erstens kommen in ihren Modellen - allen voran 

Keynes - Finanzmärkte einfach nicht vor. Zweitens verengen ihre Modelle die Suche nach den Krisen-Gründen nur auf externe Faktoren, ohne wahrzunehmen, dass die aktuelle Finanz-Krise vor allem auf interne Gründe zurückzuführen ist. 





Entsprechend greifen auch alle Empfehlungen des wirtschaftswissenschaftlichen Establishment (personifiziert u.a. in Bernake, Summers, Blanchard) 

daneben, die sich nur auf Korrekturen externer Krisenfaktoren konzentrieren, also vornehmlich neue Regulierungsideen entwickeln. Dabei übersehen sie, dass Finanzmärkte immer Wege finden (werden), Regulierungen auszutricksen. Somit wird die Instabilität der Finanzmärkte in Zukunft eher noch zunehmen. 





Im weiteren Verlauf entwickelt Münchau sieben Szenarien, wie sich die gegenwärtige Krise bis 2020 weiter entwickeln könnte, darunter eines mit dem Titel "Stress im Eurogebiet". Münchau glaubt nicht, dass der Euroraum zusammenbrechen wird, denn selbst bei evt. tatsächlich eintretenden Bankrotts von 





PIGS-Staaten, wird es für diese allemal attraktiver sein, ihre Insolvenz innerhalb des Euroraums abzuwickeln statt ausserhalb, wo diesen Ländern neben der Zahlungsunfähigkeit auch noch eine Währungs- und Banken-Krise drohen würde. 





Aber da die PIGS aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Euroraum ihre Wirtschaft nicht mehr über Wechselkursanpassungen sanieren können, müssen sie es durch massive Transformationen auf dem Arbeitsmarkt tun, Veränderungen auf die diese Gesellschaften in keinster Weise vorbereitet sind. 





Münchau schliesst aus der Präsentation seiner Szenarien: Die internationale Finanzinstabilität wird sich weiter verschärfen. Ein Instabilitätsfaktor ist China, wo die 

Immobilienpreise z.Zt. noch stärker ansteigen als damals im Immobilienboom der USA (wie der amerikanische Häuserboom endete, wissen wir nur zu gut...). Ein anderer ist der Euroraum, wo die notwendigen Adaptionsprozesse der PIGS erhebliche Krisen generieren werden.





Im zweiten Teil seines Buches beschäftigt sich Münchau mit den diversen Märkten in den Zeiten der ggw. Instabilität, die für Investoren relevant sind: Aktien, Bonds, Immobilien, Rohstoffe, Devisen - alles zunächst in allgemeiner analytischer Weise, noch ohne konkrete Anlagestrategien zu erörtern. 





Dies erfolgt im dritten Teil des Buches und steht unter der Maxime: Mikrostrategien sind out, Makrostrategien sind das Gebot der Stunde. Das klassische 





"Aktien kaufen, in den Safe und erst in dreissig Jahren wieder verkaufen" war für internationale wirtschaftliche Schönwetterlagen geeignet, in Zeiten wie der ggw. Krise funktioniert es nicht. 





Münchaus Überlegungen in diesem 3. Teil sind von einem Pragmatismus geprägt, der in erfrischender Weise noch über die Skepsis hinausgeht, die man als Geldanleger immer an den Tag legen sollte. Besonders wohltuend sein Hinweis, dass man sich nicht ärgern sollte, auch mal in der Beurteilung falsch zu liegen 

(Münchau bezieht sich humorvoll dabei selbst mit ein). Oder auch, dass man nicht zuviel Präzision beim Erstellen eines persönlichen Risikoprofils aufwenden soll. Auch seine Warnung vor den großtönenden Besserwisser in der Anlageberatung ist bemerkenswert. Münchau plädiert - wie sollte es beim Buchtitel auch anders sein - für eine gesunde Makrostrategie, personifiziert in Makroinvestoren, die nicht mit "Geheimtips" um sich werfen, sondern eher selbstkritische, fehlersensible Intellektuelle sind und sich auch nicht scheuen, ihre Meinung zu ändern.





Besonders spannend wird Münchaus Buch in seinem dritten Teil, wenn er auf den europäischen Währungsraum zu sprechen kommt. Zwar beteuern die PolitikerInnen immer wieder, dass der Euro auf ewig eingeführt worden sei, aber die Finanzmärkte sind weiterhin skeptisch. Und da sowohl die Arbeitsmärkte in den PIGS nicht weiter nach unten reguliert werden können als auch effektive Krisenbewältigungsmechanismen für den Euroraum fehlen, kann es doch mal zum Knall kommen. Das wäre nicht gleich das Ende des Euro aber das Ende eines gemeinsamen Euroraums. 





Insbesondere der horrende Schuldenstand 

Griechenlands macht Münchau Sorge. Um diese Schuldenexplosion zu vermeiden, müsste Griechenland noch erheblich unter der von Bruxelles vorgeschriebenen 3%-Defizitmarge bleiben aber gleichzeitig dennoch ein Wirtschaftswachstum erzielen. Zu einer solchen brutalen Wirtschaftstransformation wird Griechenland nicht fähig sein, also langfristig trotz aller Notkredite dennoch facto insolvent bleiben. 





Die verschiedenen für eine Makrostrategie maßgebenden Faktoren der Instabilität analysiert habend, endet das Buchkapitel, das sich der globalen Schuldenkrise gewidmet hat, mit dem lapidaren Satz: "Dann ist man am besten liquid und short".





Im "Epilog" vermutet Münchau, dass die Kredit- und Bankenkrise in eine Staatenkrise übergehen wird. Die wird noch lange dauern, und Münchau hat keine Hoffnung, dass die Politik irgendetwas zur Lösung beitragen kann (Niklas Luhmann würde sich über dieses statement freuen...). Am Ende, fürchtet Münchau, kann das zu einer Großenteignung der 

Sparer und dementsprechend zu politischen Verwerfungen führen: "Wenn Sparer in eine offene Klinge rennen, die durch die heutige Wirtschaftspolitik erzeugt wird, droht nicht nur Verarmung, sondern politische Instabilität, Unruhen und langfristig auch eine Bedrohung der Demokratie" (S. 292). Es ist das Verdienst von Münchau, vor diesen Gefahren eindringlich zu warnen, so dass "Makrostrategien" auch ein politisches Buch ist. 





Dankenswerterweise gibt Münchau im Anhang über ein gutes Glossar- und Literaturverzeichnis hinaus auch noch eine instruktive Übersicht, wie man sich im Internet über das Thema seines Buches fortlaufend weiter informieren kann. 





Wolfgang Münchau: Makrostrategien. Sicher investieren, wenn Staaten pleite gehen. 323 Seiten. 21,90 Euro. Carl Hanser Verlag München, 2010.

Dienstag

Deutschland im Abrüstungs-Delirium

Die Ereignisse überschlagen sich. Jeden Tag liest der Blogger neue Nachrichten zur 

"Bundeswehr light". Noch ist nicht alles fixiert, was Guttenberg will, aber da seine Militärreform ein kleines politisches Lehrstück ist, will sich der Blogger einer ersten kleinen Zwischenbilanz nicht verweigern. 





Angestossen wurde ich durch die bemerkenswerte Feststellung der rheinland-pfälzischen CDU-Landes- und Fraktionsvorsitzenden Christian Baldauf: "Guttenberg hat uns allen plausibel geschildert, das die Bundeswehr in ihrer jetzigen Form nicht nur am Abgrund, sondern schon im Abgrund steht"





Wow! Wer hätte so was gedacht, wo das deutsche Militär doch jahrzehntelang das absolute Hätschelkind dieser Partei war, das noch jede Haushaltssparrunde ohne angetastet zu werden, überstanden hat. Haben denn die Goldbetressten auf der 





Hardthöhe und die gutbezahlten MdBs im Verteidigungsausschuss jahrelang geschlafen und ohne unser Wissen unsere Armee vor die Wand gefahren? 





So oder so: Fakt ist, dass unser Land es erst der CDU+FDP und später auch der SPD zu verdanken hat, dass wir den Dinosaurier Bundeswehr über zig Jahre mit uns rumschleppen mussten. Diese große Koalition hat das Thema Soldatenreduzierungen und Abrüstung zu den letzten großen Tabuthemen unserer Republik erklärt. 





Und nun kommt ein solcher Kommentar gerade aus Rheinland-Pfalz, wo der frühere Innenminister Rudi Geil vor 20 Jahren von der Opposition Monat für Monat als "Rudi Ratlos" verspottet wurde, weil sich gegenüber den amerikanischen Militärplanungen in seinem Land als völlig ignorant erwies und erst durch Militäranalytiker (wie den Blogger) mittels öffentlicher US-Dokumente auf den Teppich gebracht werden musste. 





In der Tat, es hat sich allerhand geändert in der jetzigen Diskussion. 





Hier ein paar Meilensteine:





Der Generalinspekteur muss offiziell und öffentlich eingestehen, dass das meiste Geld für die grossen Rüstungsprojekte in der Vergangenheit zum Fenster rausgeworfen wurde ("Zu teuer, zu spät, zu uneffizient" so die Beurteilung des Rüstungsbeschaffungswesens durch GI Wieker in seinem Bericht an das Bundeskabinett).





Sicherheit für Deutschland ist - entgegen was uns die große Pro-Bundeswehr-Lobby in der Politik immer eintrichtern wollte - sehr viel billiger, mit sehr viel weniger Soldaten und mit sehr viel weniger Rüstung zu erreichen: Ein Drittel weniger U-Boote, keine Eurofighter in der Luft mehr - kein finsterer Feind Deuschlands irgendwo in der Welt reagiert mehr auf so was. Die Bundeswehr kann also ruhig noch viel kleiner und abgespeckter werden. 





Interessant wie sich nun die Diskussionsfronten verschieben. Die SPD, früher ja mal als Friedenspartei angetreten, versucht Guttenberg militärisch zu überholen und kritisiert dessen Bundeswehr-light Modell, wo sie sich doch früher - allerdings vor vielen vielen Jahren, Brandt lässt grüssen - gerade für Entmilitarisierung in Deutschland stark gemacht hatte. Die Gewerkschaften wollen da nicht hinten anstehen und malen schon den Untergang Deutschlands an die Wand, nur weil so ein aberwitziges Rüstungsprojekt wie das 





Talarion (unbemanntes Militärflugzeug) endlich und mit gutem Grund vom Tableau der Bundeswehrplanung verschwindet.





Und auch die in jeder politischen Sonntagsrede als "unverzichtbar" deklarierte Wehrpflicht geht jetzt, mir nichts dir nichts, übern Deister. Beim Geld hört eben auch die militärische Ideologie auf.





Und dann noch der Aufschrei in den Garnisonsstädten und die Forderung nach Kompensationen für die - natürlich kommenden - Kasernenschließungen. Ja, was war es so bequem, die in den Militärstandorten vorhandenen Liegenschaften und Soldaten als unverrückbare Größe zu betrachten. Aber all die, die jetzt nach Berlin pilgern, um doch ja "ihren" eigenen Standort als völlig unverzichtbar zu deklarieren, haben offenbar vom Abzug der ausländischen Truppen im Rahmen der Wiedervereinigung nullkommanix gelernt. 





Auch damals sprach man von lokalen "Katastrophen", mit Tränen verschwanden die 





Militär-Patenschaftsbanner der örtlichen Standortfanclubs in die Heimatmuseen. "Unser liebes Panzerbataillon", so "innig verbunden mit dieser Stadt", und ach so "fest verankert in der Bevölkerung" - mit einem Federstrich in Paris, London und Washington ging die nette Ära der militärisch-zivilen Kumpanei ganz plötzlich zu Ende. 





Aber das keinesfalls zum Schaden der jeweiligen Städte und Gemeinden! Klug planende Bürgermeister nutzen die damalige Gunst der Stunde: Neue Gewerbeflächen, oft durch die vorherige militärische Nutzung schon optimal infrastrukturiert, wurde den Kommunen oft von zivilen neuen Nutzern regelrecht unter der Hand weggerissen. 





Große, nun überflüssige militärische Trainingsflächen in Wäldern und in der offenen Natur wurden endlich für die zivile Bevölkerung zur Erholung und Tourismus frei. Kein unerträglicher Lärm mehr durch Schießübungen und in der Stadt rumknatternden Panzern. Keine Staus durch 





Militärkonvois, die zugunsten irgendwelcher undurchsichtiger Manöver mit längst überflüssigen Szenarien ("Starke Kräfte von Land Rot haben im Morgengrauen die deutsche Grenze bei Bebra überschritten"...) von irgendwelchen Kommandanten von einem Ort zum anderen (und wieder zurück...) dirigiert wurden. 





Also, den jetzt zeternden Garnisons-Stadtverwaltungen, die sich vor der Abrüstung so fürchten, sei ins Stammbuch geschrieben: 





Das konntet ihr doch alles schon lange lange vorher wissen, dass es mit dieser verfetteten, überbezahlten, überpersonalisierten und  rüstungsüberdimensionierten deutschen Armee nicht ewig so weiter gehen kann. Warum habt ihr denn nicht die 

reichhaltige Literatur zur Konversion mal aufmerksam gelesen, um euch für den Abrüstungstag X vorzubereiten? 





Jetzt ist es reichlich spät für Konversionpläne zu euren Liegenschaften und auch etwaige Duz-Freundschaften zu Guttenberg, vielleicht im Münchner Bierzelt irgendwann mal aufgebaut, werden dafür nicht hilfreich sein. 





Der Ex-Generalinspekteur selber rechnet mit rund 150 Standortschließungen. Bei zur Zeit rund 400 Standorten heisst das: jede dritte Garnison wird geschlossen werden - mindestens. Mitte nächsten Jahres werden Guttenbergs Pläne Wirklichkeit werden: "Abrüstung in Deutschland -  jetzt!"

Montag

Schach: Gegen Springer und vier Bauern doch noch Remis!

Zwischen Wehrpflicht-Abschaffung und Standortschließungen noch rasch eine kleine Meldung vom online-Schachbrett. Nach dem letzten weissen Zug: K e3 - d3, konnte mein weisser Gegner trotz überlegener "Gewinn"-Stellung tatsächlich dann doch nicht mehr gewinnen...... Lehrreich!











Post vom Generalinspekteur der Bundeswehr









Hier der Text des Generalinspekteur-Berichts zur Verkleinerung der Bundeswehr im Wortlaut.





Dank an unsere Panzeraufklärer, dass sie uns sie uns so gut aufklären und den Bericht online gestellt haben! 





Wäre schön, wenn sie auch über die Konsequenzen des Berichts , die Standortschließungen demnächst, aufklären würden.

Donnerstag

Abrüstung - auch gegen den Widerstand von Gewerkschaftsfunktionären

Die Zukunft der militärischen Luftfahrtindustrie steht auf dem Spiel wird auf soldatenglueck.de behauptet. Der Autor hat das Papier des Militärministeriums "Priorisierung Materialinvestitionen" richtig gelesen. Darin werden erhebliche Streichungen bei Rüstungsprojekten vorgenommen. 9,3 Milliarden Euro sollen eingespart werden. Betroffen sind hiervon besonders die Programme der Firma EADS:

- Es sollen 15 Transall-Transportflugzeuge stillgelegt werden
- Von den geplanten 60 A400M sollen nur noch 25 beschafft werden.
- Von den 185 Tornados sollen 100 stillgelegt werden.
- Auf die Tranche 3b des Eurofighter, also 37 Flieger, soll verzichtet werden.
- Das Unmanned Aerial System Talarion soll auch dem Rotstift zum Opfer fallen.


Was angesichts des bemerkenswerten Kabinettsprüfbericht des Generalinspekteurs, der einen jahrelangen massiven Schlendrian in der Rüstungsbeschaffung der Bundeswehr konstatiert (alle großen Rüstungsprojekte: "zu teuer, zu spät, zu uneffizient"), sehr plausibel erscheint, malt der Gesamtbetriebsratsvorsitzende von 





EADS, Thomas Pretzl und der EADS-Beauftragte der IG Metall, als Horrorgemälde an die Wand und läuten schon das Ende der militärischen Luftfahrtindustrie in Deutschland an die Wand: “Werden die Einsparungspläne des Verteidigungsministeriums umgesetzt, wird es in der Zukunft in Deutschland keine militärische Luftfahrtindustrie mehr geben.” Selbst so ein militärisch abwegiges Projekt wie das unbemannte Flugzeug 





Talarion wird von Pletzl mannhaft verteidigt. Und der gerade neulich in Deutschland erstmal völlig gestrandete Eurofighter soll doch endlich wenigstens für den Export fit gemacht werden, auch wenn er in Deutschland offenbar ein gravierendes Sicherheitsrisiko darstellt. Fragt sich nur in welche Länder....
Auch bei dieser Argumentation gilt - genau wie bei dem jetzt einsetzenden Gejammere der Garnisonsbürgermeister - das deutsche Sprichwort: "Wasch mir den Pelz aber mach mich nicht naß". Natürlich - so Stiedl - bejaht die IG Metall die Konsolidierung der staatlichen Haushalte (was soll die Gewerkschaft auch schon anderes tun), aber bitte ja nicht durch Einsparungen im Rüstungsbereich. Wo die deutsche 





Rüstungsindustrie doch schon seit Jahrzehnten satte, staatlich garantierte Gewinne einfährt. Will die IG Metall stattdessen lieber - wie die jetzige Bundesregierung - im Sozial-, Gesundheits- und Bildungwesen kürzen? Statt jetzt die Abrüstung zu behindern, hätte die IGM in den vergangenen Jahrzehnten lieber dafür kämpfen sollen, dass die Gewinne der Rüstungskonzerne den dortigen Arbeitnehmer zugute kommen. 
Die Bundeswehr und ihre Rüstung ist viel zu lange der tabuisierte Dinosaurier im Bundeshaushalt Deutschlands gewesen. Glücklicherweise haben Guttenberg und sein Generalinspekteur das nun eingesehen und fangen an endlich zu handeln: Nicht nur die Zahl der Bundeswehr-Soldaten ist eindeutig überdimensioniert, auch im Rüstungsbereich gibt es noch viele gute Einsparmöglichkeiten zugunsten dringenderer Aufgaben in Deutschland. Abrüstung jetzt!

Generalinspekteur fordert weniger Bundeswehr-Aufgaben





Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, unterstützt laut einer Meldung von Focus-online den Sparkurs von Minister Guttenberg. Im RBB-Inforadio sagte er, die Vorschläge würden einen großen Einschnitt bedeuten. Sparen sei aber notwendig. Klar sei aber auch, weniger Geld bedeute weniger Fähigkeiten. Deshalb müsse die Politik auch die Aufgaben für die Bundeswehr reduzieren.

Deutsches Militär: Der personelle Speck muss weg

Rührt euch! Jetzt meldet sich bei der überall in Gang gekommenen Spar- und Abrüstungsdiskussion zur Bundeswehr auch die Truppe selber zu Wort ("Ad Hoc News" vom 6.9.10). 



Bis 2014 muss das Militärministerium 8 Milliarden Euro einsparen, kein Pappenstiel. Wenn die Armee aber so weiter machen würde wie bisher, würden die Kosten eher noch steigen. Also müssen harte Einschnitte gemacht werden. 

Für den Rüstungssektor hat der Generalinspekteur in seinem Prüfbericht fürs Kabinett (inzwischen nicht mehr geheim, sondern in diesem Blog einzusehen) inzwischen schon erklärt, dass es bei dem bisherigen Schlendrian der großen Waffenbeschaffungen (Wieker: zu teuer, zu spät, nicht effizient) nicht bleiben darf. 



Da aber das meiste Geld im BMVg für Personal ausgegeben wird, nimmt es nicht wunder, dass sich nun auch hohe Offiziere mit Personal-Sparvorschlägen zu Wort melden. Und wenn man ihre Ideen zur Sanierung des Militäretats liest, bekommt man schon runde Augen, wie drastisch sie ausfallen: Da wird gleich das Streichen ganzer 

Führungsebenen in der Truppe und im Ministerium vorgeschlagen. 



Aber angesichts des personellen Profil unseres Militärs sehen die Vorschläge eher realistisch aus, und man fragt sich, warum die Spitze des Ministeriums angesichts des offenbar drastisch überbesetzten Personalprofils im BMVg und in der Armee nicht schon früher auf solche Gedanken gekommen ist. Vielleicht findet sich ja Peter Struck in seinem neuen Buch, das bald hier in diesem Blog besprochen wird, eine Antwort. 



Immerhin sprechen erfahrene Offiziere kritisch von "Überbürokratie und Parallelstrukturen" die nicht nur zu teuer sind sondern auch die Einsätze der Bundeswehr gefährden. Und sie können auch mit Zahlen aufwarten: Immer mehr Generäle überwachen immer weniger Soldaten - das kann finanziell nicht gut gehen. 1992 bestand die Bundeswehr aus knapp einer halben Million Soldaten, darunter knapp 200 Generäle.  

Heute ist die Gesamt-Truppenzahl um die Hälfte geschrumpft, aber wir leisten uns immer noch über 160 Generäle. Da stimmt irgendwas nicht. Und auch im Militärministerium selber erweist sich der oberste Soldatenrang  als äusserst zäh: Die Zahl der dort arbeitenden Generäle ist seit zwanzig Jahren quasi konstant geblieben, obwohl sich der von ihnen befehligte Soldatenumfang um die Hälfte verringert hat. Und wenn man hier spart, kann man - so militärische insider - auch gleich alle, offenbar überflüssigen Divisionsstäbe in der Bundeswehr abschaffen. 



Schließlich mosern die Stabsoffiziere auch über den lahmen Beschaffungsvorgang im Rüstungsbereich: Durchschnittlich geschlagene zehn Jahre dauert es, bis ein Rüstungsprojekt vom Entwurf zur Auslieferung kommt. Dann ist die Einsatzoption für die es entwickelt worden ist, aber vielleicht schon vorbei. Gekauft werden muss es dann vom Ministerium trotzdem, auf Kosten des Steuerzahlers. 



Es wird also Zeit, dass auch das BMVg mit drastischen Einsparungen im Militärbereich endlich auch seine schon seit langem fälligen Beitrag zur Sanierung der Staatausgaben erbringt.

Zukunftspapier zur Bundeswehr - jetzt über diesen Blog zu lesen!



In meinem letzten Blogpost zur Zukunft der Bundeswehr, zum Mißmanagement im Rüstungsbereich und zur Verschwendung bei den deutschen Militärausgaben musste ich mich noch auf indirekte Hinweise stützen. 


Inzwischen liegt über diesen Blog der "Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr zum Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010" zum allgemeinen Lesen bereit. 
Wer immer a) die Diskussion über die - überfällige - Reduzierung der deutschen Armee mitverfolgen und b) sich über das katastrophale Mißmanagement des deutschen Rüstungswesens informieren will:





Quelle: welt.de
Hier ist die amtliche vernichtende Beurteilung des höchsten deutschen Generals über das was bei den deutschen Militärausgaben schief läuft. 



Es wird also höchste Zeit, dass endlich Schluß mit diesem finanziellen Schlendrian durch BMVg und Rüstungsindustrie gemacht wird und die dann eingesparten Geldmittel in für Deutschland vernünftigere Bereiche (Soziales, Umwelt, Bildung) transferiert werden.

Mittwoch

Politische Bildung nur offline? Zum neuen Buch von Oskar Negt "Der politische Mensch"





Eine "Lebensform" ist mehr als Politik. Eine solche Form soll das Leben durchdringen, analysieren uns verändern. Demokratisch soll dies alles gelingen, das ist die Überzeugung von Oskar Negt in seinem neuesten Buch "Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform".





Und Negt ist optimistisch, indem er leitmotivisch Kant zitiert: dass auch ein Volk von Teufeln das Problem des Staatsmanagement noch lösen könne. Negt nimmt als Ausgangspunkt für sein Werk die zugegebenermaßen erstaunliche Tatsache, dass es Menschen gibt, die unter bestimmten Verhältnissen ihren politischen Verstand verlieren, während andere wiederum pointiert politische Urteilskraft beweisen und praktizieren. 





Nach was also entscheidet der politische Mensch - nach Charakter, Wissen, Lernen, Erfahrung, Gewissen? Der Testfall für den politischen Verstand oder Unverstand sieht Negt immer dann gekommen, wenn Extremsituationen entstehen, z.B. zur Frage nach zu praktizierendem Widerstand gegen einen faschistischen Staat. Aber, so mahnt Negt, dann ist es oft schon zu spät zu vernünftigem politischen Handeln. Politische Bildung muss schon viel früher, muss in der Normalzeit einsetzen. Negt entfaltet seinen Begriff von politischer Bildung über sechs Kategorien: Orientierung, Wissen, Lernen, Erfahren, Urteilen, Charakterbildung. Das sind auch die Leitkategorien seines Buches, auch wenn sie leider - die/der Leser/in vermisst es - im weiteren Verlauf das Buch nicht so gliedern. 





Negt zieht bei seiner Argumentation vier, wie er sie nennt "Geschichtszeichen" heran: Chernobyl, der Fall der Berliner Mauer, der 11. September und der zweite Irakkrieg. Mögen die drei ersten "Geschichtszeichen" tatsächlich erhebliche Symbolkraft in der Geschichte des 2. Hälfte des 20. Jahrhundert haben, ist man beim vierten irritiert. Angriffskriege gab es auch schon vor 2003 zu Hauf, und wenn man das eindeutige Sich-Verabschieden der USA und der NATO vom Völkerrecht als Zäsur definieren will, so taugt der völkerrechtswidrige Angriff der NATO auf die Bundesrepublik Jugoslawien, bei dem Deutschland auch Komplize war, viel besser. Den scheint Negt allerdings (S. 133) offenbar eher zu tolerieren und auch seine optimistische Klassifikation Europas als "friedenssichernde Weltinnenpolitik" blendet unverständlicherweise den als Bürgerkrieg begonnene Zerfall Jugoslawiens und die spätere 

Militäraggression der Nato mit aktiver deutscher Beteiligung auf dem Balkan völlig aus. Spätestens hier hätte Negt sich eindeutig von Gerhard Schröder, der Deutschland in diesen Krieg getrieben hat und in dessen Beraterstab Negt gewirkt hat, distanzieren müssen. Es ist auch unverständlich, warum die Aufzählung seiner "Krisenherde" in Teil II keinen Krisenherd mit dem schlichten Titel "Krieg" aufführt. 





An diesem Beispiel wird eine nicht zu übersehende strukturelle Schwäche des Buches von Negt deutlich, die leider die ganze Publikation durchzieht: Groß, mitunter genial in seinem Entwurf und den kapitelweisen Unterentwürfen, wird das Buch immer wieder unscharf und kritikabel, wenn es um konkrete moderne Sachverhalte geht. Dass Negt sein Buch in einem Jahr herausgibt, wo wir bereits das Zeitalter von 

Web 2.0 schreiben, also schon rund ein Jahrzehnt in der Online-Revolution leben, ohne dass der Autor irgendwo auf diese Revolution Bezug nimmt, ist befremdlich. Das einzige wirklich moderne Wort in seiner Publikation ist, soweit ich sehe, die irgendwann, wohl mehr aus Zufall eingestreute, Vokabel "Handy". 





Dass man statt der o.a. vier Geschichtszeichen, wie sie die traditionelle Geschichts- und Politikwissenschaft bereithält, genau so gut, und der Rezensent meint: mit sehr viel Plausibilität eher den Beginn der Massenanfertigung des PC, der Start von Ebay, Amazon und Google nennen könnte, liegt offenbar völlig außerhalb des Blickfeldes von Negt. Man kann aber nicht über politische Bildung räsonieren, diese über Kategorien wie Orientierung, Wissen, Lernen, Erfahren, Urteilen entfalten, ohne zu reflektieren dass die online-Welt mit Wiki, Google, Twitter, SMS, Blogging, Facebook genau solche Kategorien in den letzten Jahren radikal verändert hat. 





Negts Buch ist ein Bezug auf eine Welt ohne netbook, ohne 

DSL, ohne iphone; etwas platt formuliert: der Autor ist leider nicht auf der Höhe der modernen Web-Zeit. Das soll den humanistischen ethischen Ansatz von Negt keinesfalls schmälern. Hier schreibt ein hochengangierter Autor, der sich viel Gedanken über die politische Kultur der Gegenwart macht. Der auch dankenswerterweise Fehlentwicklungen in der Politik anprangert und besorgt über die internationalen Machtverhältnisse ist.





Nur ist diese Gegenwart bei Negt nach wie vor die Welt der universitären Seminarräume, der 





Uni-Bibliotheken, der Bücher und politischen Akademien. Dort entfaltet sich für Negt Wissen, Lernen, Urteilen. Aber diese Zeit ist nicht mehr die, in der wir heute leben. Es mutet dann auch irgendwie rührend an, wenn der Autor für "überschaubare Gebilde" plädiert, in denen Menschen denken und sich bestätigt finden können und dazu Beispiele wie "Nachbarschaften, gewerkschaftliche Kommunikationszentren, öffentliche Plätze" nennt. 





Das mag wohl gerade noch für die Generation von Oskar Negt gelten. Spätestens für die jetzt heranwachsende Generation, die keine Welt ohne PC und ohne Web mehr kennt, sind solche Topoi der Kommunikation und Information, wie Negt sie präsentiert, obsolet geworden. Nachbarschaft  ist schon lange durch online gaming und chatten ersetzt, das Unverständnis über den Sinn von 

Gewerkschaften wie auch durchweg aller anderer offline Sozietäten wie Vereine, Kirchen, Parteien, ausgedrückt im schlichten Nicht-Präsent-Sein von Menschen im Alter zwischen 15 und 40 Jahren in solchen Organisation, zeigt eindrucksvoll, was sich in unserer Gesellschaft und Kultur in den letzten 10 Jahren verändert hat (Negts Rekurs auf die alte Arbeitbildung - S. 221 - wirkt da wirklich etwas antiquiert). 





Man kann über diese Entwicklung nachdenklich werden, man kann besorgt sein - aber man darf diese Phänome in einer gesellschaftlichen Analyse, wie es diese Publikation in Anspruch nimmt, nicht einfach ausblenden. Negts Buch verliert deshalb leider trotz des sympathisch engagierten Duktus an vielen Stellen enorm an Wert, weil der Autor sich dieser Gesellschafts-Veränderung nicht stellt. Dabei hätte die intellektuelle Vorgehensweise von Negt, u.a. sein Eintreten für die Kompetenz "Zusammenhänge herstellen", "Orientierendes Denken", die Berücksichtigung des Neuen (online)-Lernens, der neuen webvernetzten Orientierung und der Verlagerung unserer Informationsgewinnung weg von Faktenansammlungen hin zur sophistizierten online Suchstrategie eine solche Verarbeitung  durchaus erwarten lassen.





In wieweit Phänomene wie die Frankfurter Schule, der SDS, das 

Sozialistische Büro, die in der Biografie des Autors sicherlich eine herausragende Rolle gespielt haben, für das Begreifen des 21. Jahrhundert tauglich sind, sei dahingestellt. Es wäre spannend gewesen, findet aber im Buch leider nicht statt, wenn sich Negt z.B. in diesem Zusammenhang mit Niklas Luhmann auseinandergesetzt hätte, der soweit ich sehe, in diesem Buch noch nicht mal bibliographische Erwähnung findet, von einem inhaltlichen Diskurs mit dessen ganz anderer Gesellschaftstheorie als Herausforderung für den Ansatz von Negt ganz zu schweigen.





Zwiespältig legt man also das Buch beiseite. Da müht sich ein politisch und gesellschaftlich hochengagierter und -motivierter Denker ab, um den Begriff der politischen Bildung in der modernen Zeit neu zu fassen und bleibt doch merkwürdig blind gegenüber den die Gegenwart so nachhaltig prägenden online-Determinanten. Hier tritt ein Nachfahre der Frankfurter Schule empathisch für Vernunft und Aufklärung ein, reflektiert aber nicht, welche fundamentalen Veränderungen beide Kategorien inhaltlich wie methodisch durch die Online-Welt genommen haben.  





Niklas Luhman, der Satire nie abgeneigt, hätte beim Lesen vielleicht sein berüchtigtes Wort vom "intellektuellen recycling" bemüht. So unbarmherzig sollte man mit Oskar Negt, gerade nach seinem reichhaltigen intellektuellen Leben, nicht verfahren, aber es muss doch gegen seinen Versuch, demokratisches politisches Lernen in der Gegenwart zu revitalisieren, eingewandt werden: Zu sehr eine Rückschau, zu wenig Focussierung auf die Moderne.





Verlegerisch ärgerlich ist das Fehlen eines Personen- und Sachregisters (als ob es dafür heutzutage keine software gäbe, die so etwas ohne viel Mühe automatisiert generieren kann) und ebenso das Fehlen einer Bibliographie. Bei beidem sollte der Verlag, wenn es zur zweiten Auflage kommt, dringend nachbessern, um eine bessere Akzeptanz mit dem Buchinhalt zu ermöglichen. 





Oskar Negt: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Steidl-Verlag, Göttingen 2010, 585 S., 29 Euro