der unverminderte Zustrom von Flüchtlingen ruft in unserer Gesellschaft die unterschiedlichsten Gefühle hervor. Das bei uns Journalisten vorherrschende - das mag genetisch bedingt sein - ist die Neugier.
„Wer seid ihr?“ fragt daher unsere heutigeSonderausgabe, die in Zusammenarbeit mit 44 Flüchtlingen aus aller Herren Länder entstanden ist. Ein 30-köpfiges Handelsblatt-Team hat 14 Tage lang die Flüchtlingsheime und Auffanglager durchkämmt, um Studenten, Arbeitslose, Unternehmer, Ärzte, Journalisten, Künstler und geflüchtete Politiker aufzuspüren, die ihre Erlebnisse und Erwartungen mit uns teilen.
Es ging der Redaktion dabei nicht um den Beweis ihres Gutmenschentums, sondern um die Klärung jener existenziellen Fragen, die für die Lagebeurteilung wesentlich sind. Woher kommen die Neuankömmlinge? Was treibt sie an? Was erwarten sie von uns? Was sind sie ihrerseits bereit, zu leisten - und aufzugeben? Von der Beantwortung gerade dieser Fragen hängt vieles ab - auch der künftige Wohlstand dieses Landes.
So brachten wir den Sportwissenschaftler Gronit Azemi aus dem Kosovo, dessen Asylantrag von den deutschen Behörden abgelehnt wurde, mit dem Europaminister des Kosovo zusammen. Es geht in diesem Streitgespräch um den Kern des Kerns der Massenauswanderung vom Balkan: Warum hat dieser junge Mann den Kosovo verlassen? Warum würde er es wieder tun? Was tun die dort Verantwortlichen, um ein Ausbluten zu verhindern?
Die Schlepper-Ökonomie hat uns naturgemäß besonders interessiert.Ballal Hossin aus Bangladesch berichtet, wie ihn Schlepper auf der Flucht quälten und ausnutzten. Auch andere Neuankömmlinge in deutschen Lagern erzählten unseren Reportern im Detail von Fluchtrouten undFluchthelfern - und den Geldern, die auf diesem schwärzesten aller Schwarzmärkte verlangt werden. Wir sprachen mit der geflüchteten afghanischen Journalistin Shamila Hashimi über die vormoderne Stammesgesellschaft ihres Landes, die sie nicht länger ertragen konnte. Die 28-Jährige erzählt: „Wenn du wie eine Sklavin alles akzeptierst, kannst du ein normales Leben haben. Sonst musst du sterben oder fliehen.“
Wir trafen den Iraker Mohammed, der vor dem Terror des Islamischen Staates (IS) nach Deutschland geflüchtet ist. Seine einst wohlhabende Familie, obwohl selbst muslimisch, sei verarmt und vom Terror des ISzermürbt: „Sie zerren Menschen auf Hausdächer. Dann halten sie sie fest und werfen sie einfach herunter. So als wären sie Müll. Sie lassen sie auf dem Boden zerschellen.“
Wir befragten aber auch erfolgreiche Ex-Flüchtlinge wie Amir Kassaei, mittlerweile Kreativchef der Werbeagentur DDB Worldwide, nach den Zutaten für eine gelungene Integration. Kassaei kam während des ersten Golfkriegs, bewegt heute im Werbemarkt Milliarden von Dollar und hat Forderungen an die Neuankömmlinge, die es in sich haben: „Gast zu sein ist Verantwortung und Verpflichtung zugleich. Für Einwanderer ist Anpassung eine Bringschuld.“
So liefert denn diese Sonderausgabe eine Fülle von harten Fakten und verwirrenden Eindrücken, von Schicksalen und Standpunkten, die der eigenen Meinungsbildung behilflich sein sollen. Wirtschaft beginnt mit Verstehen. Geboten wird dem mündigen Leser auf 50 Seiten allerdings nicht die eine Wahrheit, sondern er nimmt Teil an einer Suchbewegung. Wir fühlen uns dem französischen Literaturnobelpreisträger André Gide verbunden, der Journalisten und Leser gleichermaßen zur Bescheidenheit mahnt: „Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben.“ |
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